Plädoyer für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit China in Anbetracht ethischer Bedenken / Plea for a scientific engagement with China in view of ethical concerns

***English version below***

Die Regionalgruppe China(s) der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie setzt sich aus Forschenden der Sozial- und Kulturanthropologie sowie der Sinologie zusammen, die mit qualitativen bzw. ethnografischen Methoden wie Interviews und teilnehmender Beobachtung arbeiten. Durch den engen Austausch mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppen Chinas beschäftigen wir uns mit jenen Themen, die nicht nur aus wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Perspektive, sondern auch für die Menschen an unseren Forschungsorten selbst relevant sind. Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Koproduktion von Wissen auch für Europa, wo wir leben und arbeiten, relevant ist, da sie ein kritisches Verständnis für die verschiedenen Facetten der chinesischen Gesellschaft(en) fördert. Unsere Herangehensweise kann daher einen wichtigen Beitrag zur laufenden Debatte innerhalb der (deutschen) Sinologie leisten.

Die wissenschaftsethischen Fragen, mit denen Chinaforschende konfrontiert sind, unterscheiden sich in vieler Hinsicht nicht von jenen, die sich in vielen anderen Forschungskontexten stellen. Feldforschende können Zeug:innen von ethnischer oder geschlechtsspezifischer Gewalt, Belästigung oder Diskriminierung, Ausbeutung, Enteignung, Vertreibung, Plünderung natürlicher Ressourcen oder Kolonialismus werden. Es gibt kaum eine Situation, in der Sozialwissenschaftler:innen nicht mit Fragen konfrontiert werden, die ihr Gewissen auf die Probe stellen. Teil des Erkenntnisgewinns ist es, auch in moralisch schwer vertretbaren Situationen zu versuchen, unterschiedliche Perspektiven zu verstehen. Ethische Fragen bleiben jedoch immer bestehen. Eine der Situation angemessene Vorgehensweise erfordert Aushandlungen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, aber auch mit den Gesellschaften in Europa und China.

Die Frage der Ethik lastet allerdings bei der Forschung im Kontext eines autoritären Regimes wie der Volksrepublik China umso schwerer. Auch wir als qualitativ und ethnologisch Forschende befassen uns mit politisch sensiblen Themen wie staatlich gelenkter Urbanisierung und Enteignung, den Lebensumständen ethnischer Minderheiten oder Umweltfragen. Daher müssen wir bei unserem Zugang zum Feld und unserer Forschung in China sorgfältig vorgehen. Das bedeutet nicht, dass wir Selbstzensur üben oder dass uns ein moralischer Kompass fehlt. Es bedeutet, dass wir Wege finden müssen, um einen Zugang zum Feld herzustellen und aufrechtzuerhalten und vor allem, dass wir die Sicherheit unserer Gesprächs- und Forschungspartner:innen gewährleisten müssen. Natürlich kann gute Forschung über die Volksrepublik China theoretisch auch aus der Ferne betrieben werden. Unser Beitrag zu einem informierten, weniger voreingenommenen Diskurs über China basiert jedoch auf der Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort.

In der öffentlichen Berichterstattung wird China oft als eine homogene und in ihren Grundzügen moralisch verwerfliche Einheit dargestellt. Der Auftrag der Sozial- und Kulturwissenschaften besteht demgegenüber darin, diese Vereinheitlichung aufzubrechen. Gute Forschung sollte daher unserer Ansicht nach die Vielfalt der Praktiken, Stimmen und Aushandlungsprozesse nicht nur in- sondern auch außerhalb Chinas aufzeigen. Die gesamte chinesische Gesellschaft auf ihre Regierung zu reduzieren und in der Konsequenz jeglichen Austausch zu beschränken, ist einem kritischen Verständnis Chinas nicht zuträglich.

Regionalgruppe China(s) der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie
Juli 2022


***English version***

The Regional Group China(s) of the German Anthropological Association (DGSKA) is composed of researchers in social and cultural anthropology as well as sinology who work with qualitative or ethnographic methods such as interviews and participant observation. Through close interaction with different Chinese social and cultural groups, we address those issues that are relevant not only from a scientific, economic, or political perspective, but also to the people in our research locations themselves. We strongly believe that this co-production of knowledge is also relevant for Europe, where we live and work, as it promotes a critical understanding of the diverse facets of Chinese society(ies). Our approach can therefore make an important contribution to the ongoing debate within (German) sinology.

The questions of scientific ethics that confront China scholars are in many ways no different from those that arise in many other research contexts. Field researchers may witness ethnic or gender-based violence, harassment or discrimination, exploitation, dispossession, displacement, plunder of natural resources, or colonialism. There is hardly any situation in which social scientists are not confronted with questions that test their conscience. Part of gaining knowledge is trying to understand different perspectives, even in situations that are morally difficult. Ethical questions always remain, however. Taking an approach appropriate to the situation requires negotiation within the scientific community, but also with societies in Europe and China.

However, the question of ethics weighs even more heavily when conducting research in the context of an authoritarian regime such as the People’s Republic of China (PRC). As qualitative and anthropological researchers, we, too, deal with politically sensitive issues such as state-led urbanization and dispossession, ethnic minorities’ living conditions, or environmental issues. Therefore, we need to be careful in our approach to the field and our research in China. This does not mean that we practice self-censorship or lack a moral compass. It means that we must find ways to establish and maintain access to the field, and, most importantly, we must ensure the safety of our interlocutors and research partners. Of course, good research on the PRC can theoretically be done remotely. However, our contribution to an informed, less biased discourse about China is based on engagement with people on the ground.

In public reporting, China is often portrayed as a unified entity that is essentially morally reprehensible. However, the aim of social and cultural studies is to break down this ostensible homogenization. Good research, in our view, should therefore reveal the diversity of practices, voices, and processes of negotiation that exist within but also outside China. Reducing the entire Chinese society to just its government and consequently limiting human exchange, is not conducive to gaining a critical understanding of China.

Regional Group China(s) of the German Anthropological Association

July 2022

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